/ Agnes Kim
Wien : 2020
Diplomarbeit
Betreut von: Alexandra N. Lenz
Die gegenständliche Diplomarbeit setzt sich anhand des Marchfelds (Niederösterreich) als Untersuchungsgebiet mit dem Zusammenhang von gesellschaftlichem und sprachlichem Wandel auseinander. Ihre konkreten Forschungsinteressen werden aus der Dissertation von Anton Pfalz aus dem Jahr 1910 abgeleitet, die trotz ihres strukturalistisch-dialektologischen Interesses an der Dokumentation einer als homogen konzeptualisierten "`bodenständigen Bauernmundart"' auf Aspekte sozial bedingter horizontaler wie auch vertikaler Variation hinweist. Äußere und innere Mehrsprachigkeit spielen dabei eine große Rolle. In der Beschreibung der Sprach(en)geschichte des Marchfelds werden zwei Kontaktszenarien herausgearbeitet, die die Mehrsprachigkeit des Untersuchungsraumes im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert prägten, nämlich die kroatischsprachige Besiedlung des südöstlichen Marchfelds seit dem späten 15. Jahrhundert als historisches Szenario auf der einen und die Arbeitsmigration in die Landwirtschaft seit dem späten 19. Jahrhundert, die v.\,a. Personen mit Tschechisch oder Slowakisch als Erstsprache betraf, auf der anderen Seite. Der empirische Teil der Arbeit gewinnt seine Daten aus den zwischen 1926 und 1930 in Österreich gesammelten Erhebungsbögen für den Deutschen Sprachatlas, den Wenkerbögen. Es zeigt sich, dass die 40 Bögen aus dem Untersuchungsgebiet diskursiv-explizit nur das rezente Kontaktszenario abbilden, in den Übersetzungen der 40 Wenkersätze jedoch nur Kontaktphänomene zu finden sind, die sich auf das historische zurückführen lassen. Insbesondere ein Wenkerbogen aus einem ehemals kroatischsprachig besiedelten Ort zeigt die Tendenz, dass einsilbige Wörter mit der Silbenstruktur CVrC(C) # (z. B. Wurscht) im auf dem Bogen abgebildeten Ortsdialekt zweisilbigen mit der Struktur CV.raC(C) # (z. B. Wurascht) entsprechen. Dieses epenthetische /a/ kann durch die Phonologie der čakavischen Kontaktvarietät erklärt werden. Im Rahmen der variationslinguistischen Analyse der Variable mhd. ei aus allen Wenkerbögen des Untersuchungsgebiets kommen multiple lineare und logistische Regressionsmodelle explorativ zum Einsatzn, um den Einfluss (der Interaktion) quellenspezifischer (Alter und Autochthonie der Ausfüllenden) und soziodemographischer Faktoren (Bevölkerungsgröße, Anteil nicht-deutschsprachiger Personen in vier Zeitschnitten) zu determinieren. Es zeigen sich folgende Tendenzen: (1) Wenkerbögen, die von älteren nicht-autochthonen Lehrpersonen ausgefüllt wurden, realisieren bevorzugt die konservative Variante von mhd. ei (/oa/), wodurch belegt werden konnte, dass die Ausfüllenden Einfluss auf die abgebildete Varietät hatten. (2) Wenkerbögen aus Orten, in denen (noch) 1851 Kroatisch gesprochen wurde, sind progressiver und variieren weniger als jene aus (nur) deutschsprachigen Orten, woraus geschlossen wird, dass der fokussierte Sprachwandel in den kroatischen Orten früher einsetzte. (3) Dies wird vor dem Hintergrund noch deutlicher, dass sich indirekt auch Effekte der geographischen Lage zeigen: Je weiter östlich im Marchfeld gelegen, desto konservativer (mit mehr bogeninterner Variation), je weiter westlich und damit näher bei Wien, desto progressiver (und homogener) sind die Bögen. In den immer mehrheitlich deutschsprachigen Orten lässt sich also die Tendenz der Ausbreitung des Wandels vom Innovationszentrum Wien aus vermuten. (4) Weitere Indizien sprechen dafür, dass eine bestimmte soziale Struktur, die von großem, landwirtschaftlich intensivem Grundbesitz durch eine wenig mobile deutschsprachige Bevölkerung geprägt war, hemmend auf den Wandel von oa/ zu /a:/ wirkte.