Sexualität im Roman Daniel Jesus von Paul Leppin : provokative Darstellung von Sexualität als Deckmantel eines bürgerlichen Konservativismus

/ Kai Themel

Wien : 2009

Diplomarbeit

Betreut von: Bernhard FetzPia Janke

Das literarische Sujet der Sexualität wird zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Prager Deutschen Literatur, aber auch in der übrigen deutschsprachigen Literatur, geradezu inflationär thematisiert. Es ist Ausdruck der Provokation und der Verneinung der konservativ-bürgerlichen Gesellschaft, die besonders in der abgeschotteten Enklave der Prager Deutschen überproportional stark zum Ausdruck kommt. Umso mehr verwundert es, dass Paul Leppin Zeit seines Lebens als „Spezialist für erotische Probleme“ verrufen war, zumal sich seine Art der Thematisierung des Sexuellen oberflächlich nicht von der, anderer Prager Deutscher Literaten seiner Zeit unterscheidet. Ausschlaggebend für diese Beurteilung Leppins Werk war vor allem einer seiner ersten Romane, Daniel Jesus, den er 1905 verfasste und der in der Tat sehr direkt sexuelle Sujets aufgreift. An Hand dieses Romans und einiger ausgewählter Referenzpunkte ist versucht worden Paul Leppins Verständnis von Sexualität differenziert zu betrachten und einzuordnen, um so die ablehnende Haltung der zeitgenössische Rezeption seines Werks ergründen zu können. Dazu dienten zunächst zwei weitere Romane der Prager Deutschen Literatur, die nicht viel später als Daniel Jesus erschienen sind, Die jüdische Orgel (1922) von Ludwig Winder und Der Mädchenhirt (1914) von Egon Erwin Kisch. In allen drei Romanen wird das Sexuelle als etwas durch und durch Politisches beschrieben aber gleichzeitig als etwas, das ein Hindernis bei der Suche nach der erfüllten Liebe darstellt. Der Roman Daniel Jesus hebt sich inhaltlich von den anderen beiden Romanen in keinster Weise ab, sehr wohl aber in der Darstellung des Sexuellen. Im Daniel Jesus wird dieses dämonischer, inflationärer, bestimmender und „abscheulicher“ dargestellt. Dadurch entstand allzu oft der Eindruck, vielleicht auch durch die zu oberflächliche Lektüre der Rezipienten, das dämonische Sexuelle behielte am Ende des Romans die Oberhand. In der Essaysammlung Venus auf Abwegen, die 1920 veröffentlicht wurde, deren Essays aber zum Großteil bereits in den Jahren 1905 bis 1910 entstanden, legt Paul Leppin sein Verständnis von Sexualität dar. Vorweg scheint ein ungemein liberales und freizügiges Verständnis sein. Bei näherer Betrachtung jedoch stellt sich heraus, dass Leppin eine durchwegs konservative Auffassung von Sexualität hatte. Ziel seiner Essays ist es, die Idee der unbändigen Kraft des Sexus und des Körperlichen mit der Mäßigung und der Körperfeindlichkeit des christlichen Glaubens zu vereinen. Ein Manifest für die „freie Liebe“ ist Leppins Essaysammlung nicht. Durch die Analyse der Essaysammlung und der Vergleich der daraus resultierenden Ergebnisse mit den gängigen Ansichten, die Sexualität betreffend, jener Zeit, kann gefolgert werden, dass Paul Leppins Verständnis von Sexualität weder besonders liberal noch provokant war. In einigen Textpassagen, insbesondere die in denen er sein Frauenbild erörtert, wirkt Leppin geradezu bürgerlich-konservativ. Aus dieser Warte erscheint der Vorwurf der sexuellen Provokation geradezu grotesk. Anders in dem Roman Daniel Jesus, in dem Leppin ein viel freieres Verständnis von Sexualität zeichnet, als er dies in seinen theoretischen Schriften tut. Der Roman war daher ein maßgeblicher Grund für Paul Leppins Ruf des sexuellen Provokateurs. Alle bis dahin in der Arbeit gewonnen Erkenntnisse flossen in die Textanalyse des Romans ein. Bei der Textanalyse dienten vorwiegend zwei Werke der Sekundärliteratur als Orientierung und Referenzpunkte, beide von Dirk Hoffmann, der der beste Kenner des literarischen Schaffens von Paul Leppin ist. In Daniel Jesus verfolgt jede Darstellung des Sexuellen, in welcher Form auch immer, eine klare Absicht. Sie dient entweder der Charakterisierung der Protagonisten oder ist ein immanenter Teil der Handlung. Der Vorwurf der meisten Kritiker, nämlich die angeblich durchwegs abscheulich und widerlich Darstellung des Sexuellen, widerlegt den Kritikpunkt der Pornographie zu einem maßgeblichen Teil selbst. Wie kann jemand, der Sexualität in den meisten seiner literarischen Werke als etwas Widerwärtiges darstellt, der Pornographie, also dem krassen Gegenteil, nämlich der reinen Befriedigung des sexuellen Triebes, bezichtigt werden? Am Ende soll darauf verwiesen werden, dass vor allem der auf Daniel Jesus folgende Roman Berg der Erlösung, aber auch viele anderen seiner folgenden literarischen Werke, das Sujet der Sexualität viel vorsichtiger und verhaltener aufgriffen. Sei es aus Überzeugung oder um den eigenen Ruf wieder herzustellen, kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden. Fest steht, dass Paul Leppin Zeit seines Lebens und darüber hinaus der Ruf eines Pornographen und Lüstlings anhaftete, obwohl dies in keinster Weise auf ihn zutrifft.