Literarische Bearbeitungen des Phaedra-Mythos von Euripides bis A. W. Schlegel

/ Eva Miriam Simon

Wien : 2013

Dissertation

Betreut von: Johann Sonnleitner

Literarische Bearbeitungen des Phaedra- Mythos sind Thema der vorliegenden Arbeit. Anhand dieses Mythos von der katastrophalen Liebe der Enkelin des Sonnengottes und Gemahlin des athenischen Königs zu ihrem Stiefsohn lassen sich besonders gut jene drei Charakteristika illustrieren, welche die Besonderheit und die Faszination des griechischen Mythos ausmachen, nämlich Zeitlosigkeit aufgrund des Inhalts, Adaptierbarkeit sowie Verknüpfung mit Literatur und Kunst. Inhalt fast aller Mythen ist das Menschliche, und zwar nicht das Ideal, sondern das „Allzumenschliche“: die Figuren in den Werken Homers und der griechischen Tragiker sowie in denen Ovids und Senecas sind ja alles andere als nachahmenswerte Vorbilder. Dadurch, dass der Mythos in erzählender und dramatischer Dichtung das Mittel für die Darstellung des Menschen schlechthin wurde, konnte er in unterschiedlichen Kulturen in einem Zeitraum von über zweieinhalb Jahrtausenden stets aktuell bleiben. Dass beispielsweise eine Frau durch die Leidenschaft, von der sie wie von einer Krankheit befallen wird, sich und ihre gesamte Familie ins Unheil stürzt, ist ja kein Phänomen einer bestimmten Epoche. Das zweite Merkmal des griechischen Mythos ist seine Adaptierbarkeit. Jeder Bearbeiter hat innerhalb eines fixen Rahmens einen großen Spielraum. Phaedras Liebe zu ihrem Stiefsohn, die Zurückweisung durch ihn, ihre Verleumdung, ihr Selbstmord sowie die Konsequenzen aus ihrem Verhalten, nämlich die Verfluchung und Verbannung des Jünglings durch seinen Vater und die Vernichtung durch seine Pferde – all dies bleibt in jeder Bearbeitung unverändert. Jeweils unterschiedlich dargestellt sind hingegen die Ursache für Phaedras Leidenschaft, der Charakter und die Gefühle der Figuren, die Abfolge der Ereignisse oder Phaedras Motivation für ihren Selbstmord. Die Flexibilität des Mythos ermöglicht es auch, gerade den Aspekt aus ihm herauszulesen beziehungsweise in ihn hinein zu interpretieren, den man für den eigenen Zweck braucht. Dies macht ihn für die Verwendung in den verschiedenartigsten Bereichen geeignet: für moralische Belehrung oder für praktisch anwendbare Verhaltensregeln – in Emblembüchern, Meisterliedern, Kommentaren – oder für Mahnung und Erbauung in Predigten; dieser Aspekt der dynamischen Auseinandersetzung mit dem antiken Mythos ist jedoch lediglich im Nachwort der vorliegenden Arbeit erwähnt, da diese sich auf literarische Bearbeitungen beschränkt. Die Verknüpfung mit Literatur und Kunst ist, neben der Darstellung des Menschlichen und der Adaptierbarkeit, das dritte Charakteristikum des griechischen Mythos. Die alten Griechen lebten gewissermaßen mit ihren anthropomorphen Göttinnen und Göttern zusammen, die im Alltag allgegenwärtig waren – dargestellt sowohl in großen Kunstwerken wie Statuen und Wandgemälden als auch auf Gebrauchsgegenständen wie etwa auf Tellern oder Krügen. Die griechische Literatur ist geradezu gleichzusetzen mit Mythos: am Beginn der mythischen Überlieferung stand keine Heilige Schrift, sondern ein literarisches Werk, nämlich Homers Ilias. Die griechische Tragödie bezieht ihre Stoffe bis auf eine Ausnahme, nämlich Die Perser von Aischylos, ausschließlich aus dem Mythos. Aus der Fülle der mythischen Erzählungen haben sich gerade diejenigen durchgesetzt, die am meisten über den Menschen aussagen – wie etwa der Phaedra- Mythos. In dieser Arbeit wurden die Dramen von Euripides, Seneca und Racine besprochen, das Großepos und die Elegie von Ovid, die literarische Übersetzung von Schiller, sowie die theoretische Abhandlung A.W. Schlegels. Dabei wurde nicht nur das jeweilige Werk analysiert, sondern es wurden auch der kulturelle Hintergrund und die Beziehungen zwischen den Kulturen beleuchtet, da sich ja jeder Dichter eines mythologischen Werkes auf die Versionen seiner Vorgänger bezieht. Aufzuzeigen, wie zu allen Zeiten die antiken Mythen immer wieder neu gestaltet wurden, ist Ziel dieser Arbeit.