Drama als Störung : Elfriede Jelineks Konzept des Sekundärdramas

/ Maria Teresa Kovacs

Wien : 2016

Teresa Kovacs

Dissertation

Betreut von: Pia Janke

Elfriede Jelinek veröffentlichte 2010 auf ihrer Website den kurzen Essay „Anmerkung zum Sekundärdrama“, in dem sie auf ihr neu entwickeltes Konzept des Sekundärdramas eingeht und die zentralen Charakteristika dieser „Gattung“ beschreibt. Bislang verfasste Jelinek zwei Sekundärdramen: „Abraumhalde“ (2009) zu Gotthold Ephraim Lessings „Nathan der Weise“ und „FaustIn and out“ (2011) zu Johann Wolfgang von Goethes „Urfaust“. Das Besondere an jenem Konzept ist, dass Jelinek selbst fordert, dass ihre Texte ausschließlich mit den Primärdramen, auf die sie sich beziehen, inszeniert werden dürfen. Die Sekundärdramen stellen also in dop-pelter Hinsicht Bezug zu den dramatischen Vorlagen her: sie greifen Zitate daraus auf und dringen im Moment der Inszenierung in diese ein. Anliegen der vorliegenden Arbeit ist es, Jelineks Konzept des Sekundärdramas als „Störung“ zu beschreiben und nachzuvollziehen, inwieweit das Konzept über ihr grundlegend für ihr Schreiben konstitutives intertextuelles Verfahren hinausgeht. „Störung“ wird dabei als inten-tionales ästhetisches Verfahren zur Sichtbarmachung bzw. Problematisierung scheinbar evi-denter Wirklichkeitsmodelle sowie zur Verhandlung von Opazität und Transparenz künstleri-scher Werke definiert, wobei davon ausgegangen wird, dass Störungen im Bereich der Litera-tur sowohl auf Ebene der Texte als auch auf Ebene des Literaturbetriebs bzw. des Theatersys-tems auszumachen sind. Störung wird dabei nicht nur als destruktive Größe begriffen, son-dern auch als konstruktives Prinzip, das längerfristig auf bestehende Ordnungen und Systeme einwirken und so zu Veränderungen bzw. Verschiebungen führen kann. Die Arbeit richtet den Fokus auf die Spezifika des Konzepts und verfolgt die These, dass das Sekundärdrama durch das Denken des Miteinander und des gleichzeitigen Präsent-Werdens zweier Texte im Mo-ment der Inszenierung deutlich über andere Formen der Bearbeitung bei Jelinek hinausgeht. Die Arbeit plädiert dafür, den Begriff nicht auf andere Texte Jelineks zu übertragen und all-gemein mit Intertextualität gleichzusetzen, da so der spezifischen Wirkungsweise nicht ge-recht werden würde. Es sind sowohl die Sonderstellung der historischen Kategorie Drama als auch die gesellschaftlichen Entwicklungen des 18. Jhdts., die mit dem Sekundärdrama einer kritischen Reflexion unterzogen werden und die den Texten eine spezielle thematische Schwerpunktsetzung verleihen. Allerdings betont die Arbeit auch, dass das Sekundärdrama eng mit Jelineks grundlegenden dramen- und theaterästhetischen Überlegungen verbunden ist, da es ihren Widerstand gegen das Drama und das Theater fortsetzt. Mittels bewusst erzeugter Störungen, die durch Verfahren der Fragmentierung, der Umkeh-rung, der Vervielfältigung und der Selbstreflexifität des Konzepts entstehen, werden nicht nur Inhalte und Form der Primärdramen nachhaltig irritiert, sondern das Konzept greift auf diese Weise auch in das größere System des Literatur- und Theaterbetriebs ein. Das Drama wird als eine Form bewusst, die an patriarchalen Macht- und Herrschaftsdiskursen partizipiert, darüber hinaus lenkt das Sekundärdrama den Fokus auf Ein- und Ausschlüsse sowie auf Hierarchisie-rungen, die damit in Verbindung stehen. Sich konventionellen AutorInnenschafts- und Werk-begriffen verwehrend, zielt es auf die Produktion von vielstimmigen, fragmentarischen und non-hierarchischen Texten ab, die das Verdrängte der Dramen hörbar und sichtbar machen. Die Arbeit betont das politische Potential des Konzepts, sie begreift das Sekundärdrama nicht ausschließlich als destruktive, sondern auch als konstruktive Form der Störung. Dadurch soll hervorgehoben werden, dass Jelineks Schreiben nachhaltig gegenwärtige Theatertextformen, das Theater und damit verbundene Wahrnehmungsgewohnheiten prägt und verändert.