Die Evidenz der Lüge : zur Konstruktion von Unwahrheit in der deutschsprachigen Literatur um 1200

/ Lisa Rethage

Wien : 2017

Lisa Rethage

Dissertation

Betreut von: Stephan Müller

Ausgehend von den Thesen Gumbrechts und Philipowskis, mittelalterliche Erkenntnisprozesse basierten auf Präsenzeffekten, untersucht die vorliegende Dissertation Lügen in der deutschsprachigen Literatur um 1200. In Hartmanns von Aue Erec und Iwein sowie Gottfrieds von Straßburg Tristan erweisen sich Lügen als sehr erfolgreich und wenig problematisch. Die Bewertung von Lügen geht dabei immer vom Nutzen für die Protagonisten aus. Im Nibelungenlied dagegen werden Lügen zum Problem – und zwar, weil sie geglaubt werden. Sie verselbstständigen sich und motivieren die Katastrophe, obwohl sie im zweiten Teil, der am Etzelhof spielt, geradezu erwartet werden. Darüber hinaus ergibt sich ein Zusammenhang zwischen Lüge und Magie. Einerseits stehen beide in einem Konkurrenzverhältnis zueinander: Immer wieder werden magische Instanzen herangezogen, um Lügen aufzudecken und – andersherum – Lügen benutzt, um magische Kräfte unwirksam zu machen. Andererseits werden durch den Einsatz von Lüge wie Magie Wissensstände generiert – denn für gewöhnlich werden beide heimlich angewendet. Diese Ähnlichkeit macht beides poetologisch gut vereinbar. Außerdem stehen Lügen in Verbindung mit Liebe. Droht eine Liebe, die im Konflikt mit der Gesellschaft steht, öffentlich zu werden, lügen die Paare, um dies zu verhindern. Doch obwohl die Paare ständig lügen müssen, besteht zwischen den Liebenden ein Aufrichtigkeitsverhältnis, das sie dazu zwingt, dem anderen die Wahrheit zu sagen. Entgegen der oben genannten Prämisse erweisen sich Lügen zudem in der höfischen Gesellschaft geradezu als Kompetenz. Sie eignen sich dazu, Abweichungen vom arthurischen Idealzustand zu überbrücken und diesen letztendlich herzustellen. Dennoch gibt es Sachverhalte, wie Stand oder Identität, die nicht hintergangen werden können, weil sie immer wieder erkennbar werden. Im Nibelungenlied wird das Sichtbare jedoch erfolgreich verleugnet – dies führt zum gesellschaftlichen Kollaps. Darüber hinaus eröffnet der literarische Lügendiskurs um 1200 Perspektiven, die sich deutlich später auch im theologischen wiederfinden. Darin zeigt sich die Relevanz von Literatur.