/ Doris Neumann-Rieser
Wien : 2015
Dissertation
Betreut von: Günther Stocker
Die Arbeit fragt, wie Realität – als diskursiv hergestellte Kategorie – in Texten Brechts zwischen 1918 und 1956 konzipiert wird und welche literatursoziologischen und diskursiven Bedingungen dabei relevant sind. Eine wichtige Positionierungsstrategie stellt die Option für den Materialismus (vs. individuelle Seele) und die diesseitige ‚Welt‘ (vs. christliche Jenseitsvorstellungen, Ideenwelt) dar. Sowohl die Vorstellung einer Ausdruckskunst, als auch eine scharfe Trennung zwischen Kunst- und Alltagsrealität, als auch die Problematisierung von Erkenntnisprozessen entfallen damit zunächst. In den 1920er Jahren befürwortet Brecht entsprechend den Schlagworten der Neuen Sachlichkeit ‚dokumentarische‘ Darstellungsmodi, behält praktisch jedoch eine von bewusster Konstruktion und Montage geprägte Ästhetik bei. Die Beschäftigung mit aktuellen Diskursen zum Zweck ihrer Veränderung wird im Laufe der 1920er Jahre zunehmend zu einer Zielsetzung für den Autor. Um 1930 wird von Seiten der kommunistischen Kritik der Vorwurf am Lehrstück Die Maßnahme erhoben, es mangle ihm an Realistik. Brecht beschäftigt sich daraufhin verstärkt mit dem (marxistischen) Dialektikdiskurs und Wissenschaftsphilosophie. Auf dieser Grundlage wird eine Ästhetik entwickelt, die von stets situierten Standpunkten, Indeterminismus von Ereignissen und dem Primat von Wirkung, Funktion und Praxis ausgeht. Im Exil arbeitet Brecht mit der Technik der Aufdeckung ausgeblendeter (ökonomischer) ‚Wahrheiten‘. Die Rolle der Intelligenz und der empirischen Wissenschaften im Machtfeld werden in Tuiroman und Leben des Galilei verhandelt, wobei sich eine Ambivalenz zwischen dem dialektischen Wahrheitsbegriff und der Bestimmtheit ergibt, mit der etwa Galilei ‚die Wahrheit‘ behauptet. Nach dem Exil verschärft sich der Widerstreit zwischen der Formalismus-Realismus-Doktrin und Brechts Konzept der experimentell begreifbaren und mit Eingriffen veränderbaren Praxis-Realität durch den Umzug in die DDR. Brechts teilweise Kompromissbereitschaft dieser Staatsführung gegenüber lässt sich jedoch ebenfalls mit seinem dialektischen Realitätskonzept erklären.