Der Jugendsuizid in der Moderne : wissenschaftliche Vermessung und literarischer Diskurs

/ Arno Herberth

Wien : 2014

Arno Herberth

Dissertation

Betreut von: Roland Innerhofer

Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert ist der Suizid Thema der in dieser Zeit entstehenden Wissenschaften: Soziologie, Psychiatrie, Psychoanalyse haben intensiv die Ursachen von Selbsttötungen beforscht und auch dem Jugendsuizid ihre besondere Aufmerksamkeit geschenkt. 1910 setzt sich z. B. der Wiener psycho-analytische Verein mit dieser Problematik in einer Sammelpublikation auseinander. 1897 erscheint Emile Durkheims grundlegende soziologische Studie „Le suicide“. Die literarische Beschäftigung mit suizidalen Entwicklungen erhält am Beginn des 20. Jahrhunderts eine neue Qualität. Der Suizid wird dabei nicht vor der Folie moralischer Vorurteile behandelt, sondern auf empathische Weise in seiner psychosozialen Dimension präsentiert. Auf intuitivem Weg gelingt es dem literarischen Diskurs, Wissen über Suizidalität, das mitunter erst Jahrzehnte später im wissenschaftlichen Diskurs Anerkennung findet und systematisiert wird, teilweise vorwegzunehmen. Anhand von drei Fallbeispielen wird die Avantgarde der Literatur in wissenspoetischer Hinsicht aufgezeigt. Hermann Hesses „Unterm Rad“ (1906) stellt ein frühes Beispiel einer gescheiterten Bildungsgeschichte dar, die schließlich im Suizid endet. Die Selbsttötung wird hier nicht im Kontext von Schuld und Ehre verhandelt, sondern glaubhaft aus der psychosozialen Situation des Protagonisten heraus präsentiert. Ein ähnliches Fazit lässt sich zu Schnitzlers „Fräulein Else“ (1924) ziehen. In der Schnitzlerschen Monolognovelle wird zudem das Moment der Ambivalenz bei Suizidhandlungen deutlicher hervorgehoben. Bei Friedrich Torbergs „Schüler Gerber“ (1930) ist das Genre der Schülersuizidgeschichte bereits mit all seinen Topoi etabliert. Auch hat sich der wissenschaftliche Diskurs zur Selbsttötung schon so weit ausdifferenziert, dass man den Roman „Schüler Gerber“ auch vor der Folie dieser Erkenntnisse betrachten kann. Das methodische Vorgehen stützt sich zum einen auf die Interdiskursanalyse, wie sie Jürgen Link vorgeschlagen hat, um das Verhältnis von literarischem Diskurs und spezialwissenschaftlichen Diskursen näher zu bestimmen. Der Interdiskursanalyse kommt dabei die heuristische Funktion zu, den Rezipientenhorizont in historischer Perspektive näher zu bestimmen: „Literatur vermittelt als Vehikel stets (vom Autor intendiert oder nicht) ein gesellschaftliches ‚Wissen‘.“ (Link 1980: S. 137) Zum anderen ist das Dissertationsprojekt dem Forschungsfeld der literarischen Anthropologie zuzuordnen und vertritt die These, dass Literatur eine spezifische Avantgarde in wissenspoetischer Hinsicht darstellen kann.