/ Julia Maria Schoinz
Wien : 2017
Dissertation
Betreut von: Wolfgang Müller-Funk
In mehreren Werken von Joseph Roth und Arthur Schnitzler sind die drei Themenkomplexe Abschied, Mythos und Melancholie eng miteinander verschränkt – eine thematische Verbindung, die bisher in der literaturwissenschaftlichen Forschung unberücksichtigt geblieben ist. So steht im Zentrum der vorliegenden Arbeit die Frage, wie die beiden Autoren das melancholische Narrativ des Abschieds, das entweder im Kontext des Habsburgischen Mythos oder des Mythos der romantischen Liebe auftritt, literarisch umsetzen und ausgestalten. Es geht hierbei um eine Erzählform, die sich durch das Bewusstsein allgegenwärtiger Abschiedlichkeit, einer starken Sprachskepsis sowie einer Vorrangstellung der Erinnerungen auszeichnet. Ebenso wird in dieser Untersuchung beleuchtet, wie diese beiden Mythen auf die anthropologischen Bereiche des Zwischenmenschlichen und des spezifisch Kulturellen einer Gesellschaft einwirken und der Frage nachgegangen, wie sich der Habsburgische Mythos, der bei Roth als politisches Abschiednehmen verhandelt wird, in Hinblick auf Freuds Melancholie-Theorie als nicht vollzogenem Abschied vom Liebesobjekt bewerten lässt und welcher Zusammenhang zwischen Melancholie und Eros besteht. Nach der Einleitung und dem Forschungsstand setzen sich die Kapitel 3-6 dieser Dissertation mit Melancholie, Mythos und Abschied auf theoretischer Ebene auseinander, die Kapitel 7-10 beinhalten die exemplarischen Werkanalysen: So bietet das dritte Kapitel einen groben Überblick über zentrale Stationen der vielschichtigen Diskursgeschichte der Melancholie, um im Anschluss die psychoanalytische Diskurslinie von Sigmund Freud bis zu Julia Kristeva nachzuzeichnen. Danach wird – im Anschluss an Wolf Lepenies – die Melancholie als kollektives Phänomen beleuchtet und der Versuch unternommen, „Hauptsymptome“ dieser psychischen Gestimmtheit zu beschreiben. Wiederum auf Lepenies` Theorien Bezug nehmend, steht im Zentrum des vierten Kapitels die Frage, ob das Habsburgerreich unter Kaiser Franz Joseph ein Nährboden für kollektive Melancholie war – eine Forschungslücke, zu der bisher noch keine Publikationen vorhanden sind. Das sechste Kapitel verknüpft erstmals bisherige Ansätze zum habsburgischen Mythos mit Blumenbergs Bedeutsamkeit, um die wissenschaftliche Theoriebildung zu diesem spezifischen Mythos zu vertiefen. Der Schwerpunkt der Werkanalysen liegt bei Roths Œuvre auf den Romanen Radetzkymarsch, Das falsche Gewicht. Die Geschichte eines Eichmeisters, Die Geschichte von der 1002. Nacht und der Erzählung Die Büste des Kaisers, bei Schnitzler auf den drei Theaterstücken Der Reigen, Liebelei und Der einsame Weg. Zur systematischen Entwicklung und Analyse jener Abschiedsszenarien, die für diese Dissertation von Relevanz sind, wurde die sozialwissenschaftliche Themenanalyse nach Froschauer/Lueger herangezogen, um sie – in interdisziplinärer Anwendung – auf literarische Texte zu applizieren. Dadurch konnten folgende vier eigens entwickelte Abschiedsfiguren ermittelt werden: Nicht gelingender Abschied vom Habsburgerreich, Abschied der Liebenden, Melancholie durch entzauberten Eros und Abschied durch den Tod. Als Theoriebasis für die Figur „Abschied der Liebenden“ fungierte der Katalog an idealtypischen Wesensmerkmalen der romantischen Liebe nach Karl Lenz. Das zentrale Novum der vorliegenden Untersuchung besteht darin, dass sie Blumenbergs kulturphilosophische Theorien zur mythischen Bedeutsamkeit für literarische Werkanalysen heranzieht und die Tragfähigkeit dieser neuen Methode unter Beweis stellt. Darüber hinaus werden weitere Verfahren des Bedeutsamkeitsaufbaus, die über Blumenbergs Auflistung der Verfahrensweisen hinausgehen, präsentiert.