/ Lydia Steinbacher
Wien : 2021
Dissertation
Betreut von: Stefan Krammer
Von der germanistischen Literaturwissenschaft sowie der Literaturkritik lange Zeit unbeachtet hält die russlanddeutsche Literatur für eine bestimmte Leserschaft ein besonderes gedächtnis- und identitätsbildendes Potenzial bereit und ist bestrebt, mehrheitsgesellschaftliche Diskurse um die in den Texten behandelten marginalisierten Vergangenheitsversionen zu erweitern. Davon ausgehend, dass literarische Texte (kollektive und individuelle) Identitätsvorstellungen bzw. das kulturelle Gedächtnis aktiv mitprägen, ist für den Fall der russlanddeutschen Literatur ferner die mögliche Funktion als Gegengedächtnis gegenüber einem gesellschaftlich etablierten Erinnerungshorizont hervorzuheben. In der Untersuchung wird in diesem Sinn anhand von acht exemplarischen Werken neuerer russlanddeutscher Literatur ab 1991, unter Miteinbeziehung ihrer Entstehungs- und Wirkbedingungen, nach dem Potenzial für die Modellierung von spezifisch „russlanddeutschen“ Identitätskonzepten gefragt. Dieses entwickelt sich entlang wiederkehrender Motive und Narrative rund um Komplexe wie Sprache, Heimat und Erinnerung. Die Bedeutung der Literatur für die Traumabewältigung bzw. Aufarbeitung der von Russlanddeutschen im Lauf des 20. Jahrhunderts gemachten leidvollen Erfahrungen von Deportation, Zwangsarbeit und Diskriminierung ist evident. Russlanddeutsche Literatur als reine Memoiren- bzw. Erinnerungsliteratur abzutun und ihren ästhetischen Wert zu negieren, ist aber ein Trugschluss.