Charakter ohne Geschlecht : Otto Weiningers Utopie der Wiener Moderne

/ Iris Dittrich

Wien : 2016

Diplomarbeit

Betreut von: Pia Janke

Die Arbeit widmet sich Otto Weiningers 1903 erschienenen Studie "Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung." Der Text wird als Symptom der als krisenhaft erlebten politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen des Wiener Fin de Siècle begriffen. Im Fokus steht dabei einerseits die historische Einbettung des Textes in das neue medizinisch-sexualkundliche Forschungsfeld seiner Zeit, wobei besonderes Augenmerk auf den Hysterie-Diskurs gelegt wird. Andererseits befasst sich die Arbeit, ohne dabei Weiningers antifeministische Thesen aus den Augen zu verlieren, mit dem prekären Männerbild des Autors. Die antisemitischen Thesen von Geschlecht und Charakter werden hinsichtlich der Theorie vom „jüdischen Selbsthass“ sowie der jüdischen Identitätskrise um die Jahrhundertwende diskutiert. Obwohl der Text in der Wiener Moderne verortet wird, steht er auch exemplarisch als Bindeglied zwischen dem Aufbrechen traditioneller Familienstrukturen, männerbündischen Gesellschaftsentwürfen und protofaschistischer Literatur. Um diese Kontinuität zu beleuchten, wird der Versuch gewagt, Gemeinsamkeiten herzustellen zwischen dem Männerbild des Autors und dem Körperschema des faschistischen Mannes in der deutschen Freikorpsliteratur. Auf diesem Wege sollte gezeigt werden, wie Antifeminismus und Antisemitismus ein integralen Bestandteil des „Projekts Moderne“ waren. Ein weiterer Fokus wird auf Weiningers Gesellschaftskritik gelegt und inwieweit diese Berührungspunkte zu postmodernen Theoretikern der Frankfurter Schule aufweist. Somit wird anhand von "Geschlecht und Charakter" der Paradigmenwechsel der Wiener Jahrhundertwende als nicht abgeschlossen begriffen. Der zentrale Konflikt des Textes, Lust- gegen Realitätsprinzip, hat seine Modernität also bis in die Gegenwart beibehalten.