Die Bibliothek als Text. Bestand und Bestandsgeschichte der Stiftsbibliothek Kremsmünster

Ältere deutsche Sprache und Literatur

Projektleitung: Stephan Müller

Projektteam: Alexander Hödlmoser Christina-Maria Selzener

Projektlaufzeit: 01.08.2013 - 31.07.2016

Fördergeber:
FWF Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (P 25946)

Nicht mehr lange wird es dauern, bis Bibliotheken als Orte des Lesens verschwinden und schon jetzt lässt sich kaum mehr erahnen, wie sie in der Vergangenheit Arbeits- und Inspirationsraum waren: Ort der Koexistenz von Texten, die nicht im selben Buch, doch aber im selben Raum produktiv aufeinander bezogen sind. Das Projekt will die Handschriftensammlung des Benediktinerstifts Kremsmünster als einen solchen Ort rekonstruieren. Exemplarisch soll dies in Form einer dynamischen Bestandsgeschichte geschehen, die auf Grundlage der Erschließung der Handschriften in Kremsmünster erarbeitet wird, die einen exzeptionell großen und geschlossenen Bestand darstellen. Das Projekt sammelt dabei Deutsches enthaltende Handschriften und Fragmente, aber sichtet auch den lateinischen Bestand. Eine Untersuchung zu den deutschsprachigen Handschriften wird begleitend und ergänzend zum Projekt mit der Dissertationsschrift von Christina Jackel entstehen. Die Vernetzung und Dynamik des Handschriftenbestandes soll auch in einer Internetpräsentation visualisiert werden.Damit will das Projekt eine Alternative zu klassischen Bestandsgeschichten erproben: Diese erarbeiten für solche historische Fonds zwar die Herkunftsnachweise, bilden aber nicht ab, dass jedes neue Buch einer mittelalterlichen Sammlung auf bereits vorhandene Bücher traf, die wiederum keinesfalls abgeschlossene Produkte waren. Vielmehr wurde in den Handschriften weitergearbeitet und das Verständnis gegenüber den alten Beständen wandelte sich ständig und hinterließ Spuren. Ein Beispiel: In Kremsmünster finden sich sensationell frühe Fragmente des Minnesangs, der im ‚Normalfall‘ nur in den späteren Liederhandschriften überliefert ist. Vereinen diese späten Handschriften Texte aus verschiedenen Zeiten und beziehen sie im Raum des Codex aufeinander, so geschieht ähnliches auch im Raum der Codex-Sammlung in Kremsmünster, die Bibliothek wird zum Text. Und auch die höfische Epik ist mit dem frühsten Textzeugen des ‚Iwein‘ vertreten. Wie an keinem anderen Sammlungsort bündelt sich hier also früh schon ein Interesse an einer neuen weltlichen Literatur, die innerhalb der Klostermauern ein Kuriosum war, außerhalb derselben aber erst später den Weg aufs Pergament fand. Was als singulär konzentriertes Verschriftlichungsereignis zu würdigen sein wird, das mündet indes auch in ein dauerhaftes Interesse an weltlichen Liedern, in einem sich wandelnden Umgang mit weltlicher Literatur, in einem schließlich antiquarischen Interesse und in der Neuzeit dann in eine gelehrte Faszination gegenüber diesen deutschsprachigen Texten, die noch heute in Kremsmünster liegen.Solche Zusammenhänge werden in Anschluss an die hervorragende Katalogisierungsarbeit durch Hauke Fill und auf Grundlage eigener solider Handschriftenbeschreibungen erarbeitet, die in eine in Zeitschnitte gegliederte Produktions- und Sammlungsgeschichte eingehen. Als Modellfall soll das Projekt damit vorführen, wie man historische Handschriftenbestände als vernetzte und dynamische kulturelle Größen beschreiben kann und damit empirisch solide Handschriftenkatalogisierung und aktuelle kulturwissenschaftliche Fragen nach der Textualität mittelalterlicher Literatur aufeinander produktiv bezieht.