Althochdeutsche Syntax

Ältere deutsche Sprache und Literatur

Projektleitung: Richard Schrodt

Projektteam: Silvia Kirova

Problemstellung

Wenn man sich auf die klassischen Handbücher des Althochdeutschen bezieht, gibt es derzeit keine ausführliche Syntax des Althochdeutschen. Zwar gibt es einzelne Arbeiten zu verschiedenen Autoren aus althochdeutscher Zeit, und die althochdeutsche Syntax ist auch in verschiedenen Gesamtdarstellungen zur Sprachgeschichte oder zur historischen Syntax des Deutschen mitbehandelt. Doch die geläufigen Handbücher kommen ohne Syntax aus, oder sie enthalten syntaktische Bemerkungen verstreut in der Formenlehre. Das hat zweifellos auch praktische Gründe: Das Studium des Mittelhochdeutschen gehört durch die literarisch interessanteren Texte immer schon zum Kernbereich der altgermanistischen Ausbildung, während das Althochdeutsche immer mehr zum Randbereich für speziell Interessierte wurde. Für die Lektüre mittelhochdeutscher Texte braucht man vor allem eine kontrastive Syntax, die zum Verständnis der vom Neuhochdeutschen abweichenden syntaktischen Erscheinungen führte. Der von Hermann Paul verfaßte Syntaxteil in seiner Mittelhochdeutschen Grammatik diente ursprünglich diesem Zweck, und er hat bis zur 19. Auflage (1963/66) diese Funktion durchaus adäquat erfüllt. Auch der Abschnitt über die mittelhochdeutsche Syntax in dem kleinen Büchlein von Weinhold/Ehrismann/Moser hat sich ebenfalls hervorragend bewährt. So konnte man das Althochdeutsche einerseits vom Mittelhochdeutschen aus erfassen, andrerseits schien es wohl auch nicht notwendig, zum Verständnis der althochdeutschen Texte und zu ihrer Übersetzung ins Neuhochdeutsche einen eigenen Syntaxteil zusammenzustellen. Man konnte wohl voraussetzen, daß jemand, der althochdeutsche Texte liest, wenigstens ansatzweise eine indogermanistische Ausbildung hat und die wichtigsten syntaktischen Erscheinungen von der vergleichenden (indogermanischen) Sprachwissenschaft aus beurteilen und verstehen konnte. Ebenso verhält es sich beim Gotischen: Die bekannte Grammatik von Braune/Eggers enthält keine Syntax, und neuere Arbeiten wie etwa das Göschen-Bändchen von Sonderegger kommen ebenfalls nur mit kurzen Bemerkungen zur Syntax aus. Lediglich das „Gotische Elementarbuch“ von Wilhelm Streitberg enthält einen in seiner Art vorzüglichen Abriß der Syntax, der unlängst als eigene Publikation nachgedruckt wurde. Das Dilemma einer Syntax für ältere germanische Sprachen zeigt auch recht gut die Neubearbeitung des „Altsächsischen Elementarbuchs“ von Ferdinand Holthausen durch Gerhard Cordes: Während Lautlehre und Morphologie bis zur Unkenntlichkeit verändert wurden, blieb Holthausens Syntaxteil unangetastet. Man muß dem Bearbeiter dafür wohl dankbar sein: Ein Elementarbuch sollte ja zunächst für die Lehre dienen, es sollte Texte, Grammatik und Wörterbuch zusammen enthalten, sodaß man im Unterricht mit diesem einen Buch auskommen konnte. Ich bin nicht davon überzeugt, daß die Bearbeitung diesem Zweck entspricht. Ein Glücksfall ist hingegen der Syntaxteil in Andreas Heuslers „Altnordischem Elemantarbuch“: Hier findet sich eine ziemlich vollständige syntaktische Darstellung, die dazu noch didaktisch gut präsentiert wird. Ein solcher Glücksfall wollte sich für das Althochdeutsche und das Gotische eben nicht einstellen.

Projektziel

Projektinhalte

Im Rahmen dieses Projekts soll erstmals eine deskriptive Syntax des Althochdeutschen verfaßt werden, die ausführlich genug ist, um eine Übersicht über alle syntaktischen Erscheinungen zu geben – auch über bisher wenig bearbeitete Gebiete wie etwa die Wort- bzw. Satzgliedstellung. Diese Syntax soll

  • syntaktisch relevante Daten für das Althochdeutsche auf Grund eines methodisch einwandfrei zusammengestellten Korpus präsentieren;
  • so aufgebaut sein, daß sie sich zwar an die junggrammatische Tradition der historischen Grammatik anschließt, aber die Grundproblematik der junggrammatischen Methode auf dem Gebiet der Syntax umgeht;
  • sie soll so konzipiert sein, daß sie neben einer auf dem neuesten Stand der wissenschaftlichen Methode gründenden Beschreibung auch den didaktischen Erfordernissen im Hochschulunterricht genügt;
  • sie soll neueren Erkenntnissen und Ergebnissen der Syntaxforschung Rechnung tragen, und sie soll
  • eine ausführliche Bibliografie der weit verstreuten wissenschaftlichen Literatur zur althochdeutschen Syntax und überhaupt zur historischen Syntax der germanischen Sprachen enthalten, soweit das Althochdeutsche ein wesentlicher Bestandteil dieser Arbeiten ist.

Begründung und Erläuterung

Eine deskriptive Darstellung der althochdeutschen Syntax steht vor folgenden Problemen:

  • Es gibt kein einheitliches Althochdeutsch auf der diatopischen Ebene. Vielmehr muß man damit rechnen, daß die unterschiedlichen Dialekte auch unterschiedliche syntaktische Erscheinungen aufweisen. Zwar kann man mit guten Gründen darauf hinweisen, daß es die größten Unterschiede im lautlichen Bereich gibt, während sich auf den grammatischen Ebenen oberhalb der Morphematik weniger Unterschiede zeigen, die zudem zunehmend und schneller ausgeglichen werden, doch sollte man eine solche Einheitlichkeit nicht von vornherein auf allen syntaktischen Ebenen voraussetzen.
  • Es gibt auch kein einheitliches Althochdeutsch auf diachronischer Ebene. So steht die Sprache Notkers (erste Hälfte des 11. Jhdts.) dem Frühmittelhochdeutschen näher als die Textzeugnisse aus dem 9. Jhdt.
  • Eindeutige Daten einer authentischen deutschen Syntax gewinnt man nur aus Texten, die entweder völlig unabhängig von einer lateinischen Vorlage sind oder in denen nachweislich die lateinische Vorlage frei übersetzt wurde.
  • Manche Textzeugnisse kommen für eine syntaktische Beschreibung nicht in Frage, weil sie entweder zu kurz sind, um systematisch ausgewertet werden zu können, oder weil die Überlieferungslage die Edition eines zuverlässigen Textes nicht erlaubt.

Aus allen diesen Gründen ist es notwendig, für die Beschreibung der ahd. Syntax zunächst nur einen einzigen größeren Text heranzuziehen, wobei nur Otfrids Evangelienbuch in Frage kommt. Dieses Werk läßt erwarten, daß es die wesentlichen syntaktischen Erscheinungen asureichend repräsentiert. Weitere Gründe, gerade das Evangelienbuch zur Grundlage zu nehmen sind:

  • die Überlieferungslage: Der Text dieses Werkes ist durch das Autograph, repräsentiert durch die Wiener Handschrift V, weitgehend gesichert;
  • die Textherstellung: Otfrid hat selbst in seiner lateinischen Vorrede den Einfluß von Reim und Metrum auf grammatische Formen dargelegt. Durch die intensive Forschung (die Ausgaben von Kelle, Piper und Erdmann, die Arbeiten von Ingenbleek und Nemitz) ist es möglich, alle diese Einflüsse aufzudecken, so daß es weitgehend geklärt ist, welche grammatische Formen fehlerhaft sind;
  • die Forschungslage: In der Otfrid-Syntax von Erdmann liegt eine im Wesentlichen zuverlässige Belegsammlung vor. Ergänzend dazu enthalten die großen Ausgaben von Kelle, Piper und Erdmann weitere wertvolle Anmerkungen zu syntaktischen Erscheinungen. Schließlich muß noch die Übersetzung von Kelle erwähnt werden, die trotz der Metrik erstaunlich einfühlsam und genau ist. Wertvoll sind auch die auszugsweisen Übersetzungen und Kommentare von Vollmann-Profe. Außerdem liegen zu syntaktiscen Einzelproblemen ausführliche Studien vor;
  • die Nähe des südrheinfränkischen Dialekts Otfrids zum Ostfränkischen, das wegen seiner vermittelnden Stellung als „Normalahd.“ gilt.

Ergänzend werden die dem Dialekt Otfrids nahe stehenden Texte herangezogen (Tatian, Isidor-Sippe), und hier vor allem jede Stellen, die als vom Lateinischen weitgehend unabhängig gelten können.

Die Schriften Notkers werden, weil sie zeitlich und räumlich ferner liegen, erst in zweiter Linie berücksichtigt.

Gewählte Methodik

Der grundlegende Plan der Disposition soll so weit wie möglich der junggrammatischen Tradition der syntaktischen Beschreibung entsprechen. Darüber hinaus soll es aber auch möglich sein, neuere Erkenntnisse der Syntaxforschung zu berücksichtigen, wobei der entsprechende Objektbereich der syntaktischen Erscheinungen in seinem Zusammenhang gewahrt bleiben soll. Weiters soll es möglich sein, diachronische Entwicklungen in ihrem Zusammenhang zu verfolgen. Schließlich soll sich die Einteilung des Stoffes nicht grundsätzlich von den vergleichbaren Werken in dieser Reihe unterscheiden, so daß die methodische Einheit der syntaktischen Beschreibung, wie sie sich in der deutschen Philologie herausgebildet hat, erkennbar bleibt.

Aus diesem Grund wird als Gliederungsprinzip ein Phrasenstrukturmodell gewählt, das auch in der strukturalistischen Syntaxforschung verbreitet ist (Akademie-Grammatik, neuere Generativistik). Die einzelnen Abschnitte werden so eingeteilt, daß zusammengehörige syntaktische Erscheinungen am gleichen Ort beschrieben werden können. Die Auflösung der Kasus- und Negationssyntax wird bewußt in Kauf genommen.

Das folgende Gliederungsschema verdeutlicht die Grundprinzipien der syntaktischen Beschreibung. Die Gliederung und die Benennung der Abschnitte sind nur als Beispiele für das Gliederungsprinzip zu verstehen.

A Syntax des einfachen Satzes
1. Wortgruppen (Phrasen 1. Stufe)
1.1. Verbalgruppe
1.2. Nominalgruppe
1.3. Adjektivgruppe
1.4. Präpositionalgruppe
2. Satzglieder (Phrasen 2. Stufe)
2.1. Prädikat
2.2. Subjekt
2.3. Objekt
3. Erweiterte Satzglieder (Phrasen 3. Stufe)
3.1. Adverbialien: semantische und syntaktische Typen
3.2. Formen der adverbialen Einbettung („Satzbaupläne“)
4. Der minimale Satz (Phrase 4. Stufe)
4.1. Aspekt/Aktionsart
4.2. Tempus
4.3. Modus
4.4. Satznegation

B Syntax des komplexen Satzes
5. Satzgefüge (Phrase 5. Stufe)
5.1. Formen der syntaktischen Konnexion
5.2. Klassen der Subordination (Nebensatztypen)
5.3. Formen der Tempus- und Moduskongruenz (Zeitenfolge, Konjunktiv im Nebensatz)
5.4. Ausdrucksformen der Subordination (z.B. Verbstellung, infinite Verbalformen usw.)
5.5. Die einzelnen Konnektoren (semasiologisch)

C Besondere syntaktische Formen und Konstruktionen
1. Funktionen der Satzgliedstellungen (im Sinn der funktionalen Satzperspektive)
2. Ellipsen
3. Anakoluth
4. Andere „Regelwidrigkeiten“