Vorlesungs­verzeichnis

Literaturtheorie (VO): Die Chiffre K. - Kafka und die Literaturtheorie

135031 VO 2022W

Ansicht in u:find »

Moodle

Ziele, Inhalte und Methode der Lehrveranstaltung

In Jorge Luis Borges’ phantastischer Erzählung „Die Lotterie von Babel“ liest man von einer „heiligen Latrine namens Qaphqa“: einem Ab-Ort des Aber-Glaubens, wo die Bewohner der Stadt ihre Wünsche, Sehnsüchte und Ängste auf kleinen Zetteln deponieren können, um dadurch – falls sie von der gottgleich-allmächtigen Lotteriegesellschaft erhört werden – den Lauf der zukünftigen Dinge zu beeinflussen. Borges’ Anspielung verweist auf den magisch-enigmatischen Nimbus, den Kafkas Name seit einem Jahrhundert hat. So wie in der Latrine von Babel das Niedrigste mit dem Höchsten, Exkrement und Transzendenz, eng verbunden scheint, so werden auch Kafkas Werke wie heilige Texte rezipiert, in denen jedem Buchstaben und jeder Ungereimtheit eine höhere Bedeutung zukommt: Aus der Banalität der Literatur, die nur eine Geschichte zu erzählen sucht, soll der Funke des Geistes schlagen, der das Ganze erhellt. Wofür steht die Chiffre K.? K. wie Kafka? K. wie Kunst? K. wie Kot? K. wie Kairos? K. wie Kind? K. wie Kapital? K. wie Katastrophe? Die Signatur des Kafkaesken ist schwer zu entziffern – sie ist Abbreviatur des Rätselhaften selbst: K. wie Kryptogramm. Doch es ist eine Geheimschrift, zu der der Code verlorenging. Ein Schloss ohne Schlüssel. Eine Hieroglyphe ohne Stein. Eine bodenloser „Schacht von Babel“, wie Kafka, der Totengräber des Sinns, es selbst einmal umschrieben hat. Sein Werk dient uns seither als tiefste Echokammer der Spekulation. Kaum ein anderes erfuhr mehr Über-Interpretationen, kaum ein anderes wurde so weit ausgedeutet, ausgelegt, ausgeschlachtet – die herrlichste Schlachtplatte der Theorie!

Es ist angerichtet: von Adorno bis Žižek, von Arendt bis Anders, von Bataille bis Benjamin, von Camus bis Canetti, von Deleuze bis Derrida, von Kittler bis Zischler – und dazwischen die spekulativen Gustostückerln von Giorgio Agamben, Maurice Blanchot, Harold Bloom, Luc Boltanski, Jorge Luis Borges, Judith Butler, Umberto Eco, Werner Hamacher, Milan Kundera, Hans-Thies Lehmann, Georg Lukács, Jean-Francois Lyotard, Alice Miller, Vladimir Nabokov, Marthe Robert, Jean-Paul Sartre, W. G. Sebald, Susan Sontag, Tzvetan Todorov …

Umfasst sind damit die virulentesten Diskurse, die das Denken der Moderne und der Postmoderne bestimmt haben und es weiterhin stimulieren: Kafka und das Unbewusste, Kafka und der Glaube, Kafka und die Gerechtigkeit, Kafka und die Liebe, Kafka und der Kapitalismus, Kafka und die Medien, Kafka und die Dekonstruktion, Kafka und das Böse, Kafka und die Tradition, Kafka und die Bibliothek, Kafka und die Phantastik, Kafka und das Kleine, Kafka und das Gespenst des Fortschritts …

In der Vorlesung werden wir uns diesen Namen und diesen Themenkomplexen widmen – und sehen, wie sehr in der Literatur – und hier ist Kafka das beste Beispiel – die philosophische Reflexion aufgehoben ist. Weil nichts unausdenkbar ist, gibt es Literatur. Weil alles immer wieder überdacht werden muss, gibt es Theorie.

 

Art der Leistungskontrolle und erlaubte Hilfsmittel

Schriftliche Prüfung in der letzten Stunde des Semesters (26.1.2023); zwei weitere schriftliche Prüfungstermine zu Anfang und Ende des nächsten Semesters; mündliche Prüfungen ebenfalls jederzeit nach Vereinbarung möglich.

 

Literatur

Die wesentlichen theoretischen Texte werden auf Moodle bereitgestellt.

 

Prüfungsstoff

Inhalte des Vortrags bzw. Zitatensammlungen zur Vorlesung (auf Moodle zu finden); je nach Interesse ergänzende Lektüre und Studium der theoretische Begleittexte (optional); natürlich auch die Kenntnis von Kafkas wichtigsten Werken

 

Mindestanforderungen und Beurteilungsmaßstab

Kenntnis der vorgetragenen Inhalte und Thesen; bei der schriftlichen Prüfung gilt es, eine umfassende Frage in eineinhalb Stunden zu beantworten (Essay/Freitext); Beurteilung je nach Tiefe, Präzision und Ausführlichkeit der Beantwortung