Vorlesungs­verzeichnis

Masterseminar NdL: Tiefenfiguren in der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts

100187 SE 2023S

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Vortragende:

Ziele, Inhalte und Methode der Lehrveranstaltung

Die Tiefe zählt zu den ältesten und wichtigsten Metaphern der Kulturgeschichte. Dies verdankt sie ihrer engen Bindung an Konzepte von Wahrheit und Erkenntnis, Ursprung und Seele, Substanz und Grund, an Vorstellungen von Subjektivität, emotionaler Intensität und Echtheit. Diesen positiven Konnotationen stehen freilich ebenso zahlreiche negative Aufladungen gegenüber, in denen die Tiefe – die ikonographische Tradition von Hades und Hölle fortführend – als Projektionsraum für das Dunkle, Irrationale und Bedrohliche, für unkontrollierbare Kräfte dient. Deren Imagination verbindet sich nicht selten mit Wertungen des sozialen Raums, mit einer sozialräumlichen Aufladung, die in der Bildtradition verbrecherischer, gesetzloser Unterwelten sinnfällig zum Ausdruck kommt. Diese konkurrierenden semantischen Besetzungen der Tiefe bestimmen sie zu einer hoch ambivalenten Figur, in der individuelle und kollektive Sehnsüchte nach einem Sicherheit, Gewissheit und Identität verbürgenden Grund auf Ängste vor verschiedenen Spielarten des Abgrunds treffen. Nimmt man aktuelle gesellschaftliche Diskurse zum Ausgangspunkt, zeigt sich schnell, dass Metaphern und Topologien der Tiefe ein machtvolles Bauelement sozialer Ordnungen und des politischen Imaginären sind. Mit der Tiefe wird Politik gemacht, sie ist als emotionalisierendes Argument, als Idee und Ideologie mobilisierbar, sie lässt sich – auf unterschiedliche Weise – ‚entsichern’.
Die andauernde politische Instrumentalisierbarkeit der Dichotomie von Oberfläche versus Tiefe, Verwurzelung (Heimat, Boden, Abstammung) versus Nomaden- oder Migrantentum, macht somit die Dringlichkeit einer Diskurs- und Wissensgeschichte der Tiefe evident. Denn die hartnäckig beschworene Opposition zwischen einem tiefen Innen und einem flachen Außen, die mit der Kippfigur von Bedrohungsszenarien und Schutzversprechen bis heute politisch zu überzeugen vermag, ist eine diskursive Figur, die es im Laufe von Neuzeit und gesellschaftlicher Moderne erst zu entwickeln und zu verankern galt. Das Thema eröffnet freilich nicht nur imaginations- und wissensgeschichtliche Fragen. Spannend ist die Figur der Tiefe auch, weil sie in Philosophien, Ästhetiken, Gesellschafts-, Kultur- und Literaturtheorien verwoben ist. Dies beginnt mit Platons Höhlengleichnis und führt über die Hermeneutik zu poststrukturalistischen und post-postmodernen Abarbeitungen an Hermeneutik und Strukturalismus.
Das SE-Thema ist somit breit gespannt: Es reicht von der Geschichte des Grabens in die Tiefe (Literatur der Romantik, Bergwerke, Kanalsysteme, U-Bahnen) zu Tiefenkonzepten bei Karl Marx und Sigmund Freud, von der Tiefe in Konzepten autonomer Ästhetik (Schiller, K. Ph. Moritz) bis zu hierauf antwortenden Konzepten der Moderne (Surrealismus, Dadaismus, Kafka, Musil) und der aufgewerteten Massenkultur und Pop-Ästhetik (Benjamin, Kracauer, Jelinek, Meinecke), von fiktiven und realen Untersee-Reisen (Verne) bis zu freiwilligen und unfreiwilligen Keller-Existenzen (Dostojewski, Ellison, Fritsch).

 

Art der Leistungskontrolle und erlaubte Hilfsmittel

Die Lehrveranstaltung verfolgt zwei Ziele:
1) Zum einen zielt sie auf die Vermittlung und selbständige Erarbeitung von literatur- und kulturhistorischem Wissen bezüglich der im Zentrum stehenden Fragestellung, die – vom Gegenstand wie von der Herangehensweise – auf dem Zugang der kulturwissenschaftlichen Germanistik basiert.
2) Zum anderen zielt das Seminar auf das Erwerben praktischer Kompetenzen des selbständigen wissenschaftlichen Arbeitens, wobei die einzelnen Arbeitsschritte (unterstützte Themenfindung; Erstellung eines Exposés, inklusive klarer Fragestellung, theoretischem Rahmen, Methodik sowie einer Bibliografie relevanter Forschungsliteratur) thematisiert, diskutiert und Schritt für Schritt mit Unterstützung (durch die LV-Leiterin und in themenbezogenen Arbeitsgruppen) umgesetzt werden.

Die Lehrveranstaltung beginnt mit mehreren Sitzungen, in denen auf der Basis selbständiger Vorbereitung (Lektürenotizen) wichtige theoretische und thematisch einführende Grundlagen (u.a. ein Überblick über die Begriffs- und Imaginationsgeschichte der Tiefe) gemeinsam erarbeitet werden. Im Anschluss folgen Termine, die der gemeinsamen Erarbeitung literarischer Schlüsseltexte gewidmet sind. Diese Termine werden – bei Bedarf – ergänzt durch Überblicke und Hilfestellungen zu den verschiedenen Bereichen wissenschaftlichen Arbeitens (literatur- und kulturwissenschaftliche Methodik, Bibliografieren, Themenspezifizierung, Strukturierung der schriftlichen Abschlussarbeit). Die letzten Termine sind der Präsentation und Diskussion der erarbeiteten Exposés gewidmet.

ART DER LEISTUNGSKONTROLLE
- Regelmäßige Anwesenheit (max. drei Fehlstunden)
- Vollständige und termingerechte Lektüre der Pflichtliteratur
- Vorbereitung der Sitzungen (dringend, regelmäßig und für alle TeilnehmerInnen!)
- Aktive mündliche Mitarbeit in Plenums- und Gruppendiskussionen
- Exposé inklusive Bibliografie, Abgabe während des Semesters
- Ein bis zwei Kurzpräsentationen
- Schriftliche Abschlussarbeit (25 Seiten Haupttext, einzureichen bis 30.8.2023)

 

Literatur

Eine ausführliche Liste der Primär- und Sekundärliteratur wird in der ersten LV-Einheit ausgehändigt und ist – inklusive der wichtigsten Texte – ab dann auf moodle zugänglich.

 

Prüfungsstoff

Siehe oben

 

Mindestanforderungen und Beurteilungsmaßstab

Die Gesamtnote wird aus den oben angeführten Teilleistungen (1. schriftliche Abschlussarbeit, 2. Exposé, 3. Kurzpräsentation, 4. mündliche Mitarbeit) errechnet, wobei die Punkte 1 bis 3 die Mindestanforderung (1. positive Abschlussarbeit, 2. Exposé, 3. Kurzpräsentationen) darstellen.

Da das Konzept des Seminars auf kontinuierlicher Mitarbeit und Lektüre basiert – schrittweiser Aufbau von für die SE-Arbeit relevantem Wissen – wird Interesse für das Thema und für den Zugang sehr empfohlen! (Es werden hingegen keine Referate i.e.S. verlangt.)