Vorlesungs­verzeichnis

Masterseminar NdL: Ressentiment. Denkstile und Schreibweisen der Verbitterung

100125 SE 2024S

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Vortragende:

Ziele, Inhalte und Methode der Lehrveranstaltung

Das französische ressentiment wird übersetzt mit »Verbitterung«, »Neid« und »Missgunst«, mit »dumpfer Unzufriedenheit« oder auch mit »Rachsucht«. Ressentiments entstehen aus einer erfahrenen Verletzung oder Kränkung, auf die der Betroffene nicht aktiv reagieren konnte. An die Stelle von Vergeltung tritt deshalb Verinnerlichung, die das vormals akute Empfinden zu einem bloßen »Rückschlagsgefühl« (Theodor Lessing) werden lässt: verdrängte Gemütserregungen führen zur ›Vergiftung‹ der Persönlichkeit. Ob ihrer Ohnmacht kann diese nur indirekt, nur mittels Agenten oder durch Hinterlist agieren und ihre Selbstachtung nur durch Abwertung Anderer wahren. Dem gehemmten Handeln geht dabei ein gehemmtes Erkennen voraus. Denn nur, weil der vom Ressentiment Erfasste darauf verzichtet, das Geschehene und seine eigene Rolle genauer zu ergründen und stattdessen die Schuldigen der eigenen Misere immer bereits kennt, delegiert er seine Rachsucht an Autoritäten wie das Recht oder den Staat, an ›die Mehrheit‹ oder ihre Führer.
Weil das Phänomen des Ressentiments nicht nur subjektive Befindlichkeiten umfasst, sondern Sozialverhältnisse als Affektverhältnisse begreifbar macht, gilt es heute als Schlüssel dafür, aktuelle politische Verwerfungen (wie Populismus und Verschwörungstheorien, neuen Nationalismus, Abschottung und Identitätspolitik) im lokalen wie globalen Maßstab zu dechiffrieren. Doch hat das Ressentiment nicht nur Erklärungskraft, sondern selbst eine Geschichte: Von Kierkegaard und Nietzsche über Max Scheler und Jean-Paul-Sartre bis hin zu Pankaj Mishra und Joseph Vogl wurde es mit dem Entstehen bürgerlicher Moral, mit der Geburt der kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft oder der neoliberalen Globalisierung verknüpft. Überlebende der Shoa wie Jean Améry und Psychoanalytikerinnen wie Cynthia Fleury haben in Ressentiments einen unauflösbaren, weil schlechtweg traumatischen Kern ausgemacht. Und unter welchen Bedingungen die Gemütslage des Ressentiments zustande kommen und weiterwirken kann, welche Denkstile, Sprachgebräuche oder sozialen Kontexte sie wie bedingen, war seit der ›Sattelzeit‹ um 1800 auch immer wieder Thema und Gegenstand der Literatur.
Deshalb soll sich das Seminar erstens anhand der genannten Autoren einen Überblick zur Theorie und Genealogie des Ressentiments verschaffen. Zweitens wird es um literarische Texte und Schreibweisen gehen (von Goethe über Hebbel, Dostojewski, Schnitzler und Kafka bis hin zu Thomas Bernhard, Wolfram Lotz und Juli Zeh), um deren analytische Kraft oder auch deren eigene ressentimentale Anlage. Abschließend stehen die Eigenarten und Dynamiken aktueller Ressentiment-Gemeinschaften zur Debatte: ihr Entstehen durch soziale Schief- und durch prekäre Lebenslagen; ihre kommunikative Ausweitung über neu programmierte Öffentlichkeiten, insbesondere die »social media«; und ihre Nutzbarmachung durch die politisch-ökonomischen »entrepreneurs of ressentiment« (Richard Sennett) von heute.

 

Art der Leistungskontrolle und erlaubte Hilfsmittel

Schriftliche Beiträge aller Lehrveranstaltungstypen der SPL 10 können einer automatischen Plagiatsprüfung unterzogen werden; dazu zählen insbesondere Arbeiten der Pro-, Bachelor- und Masterseminarstufe, aber auch Lehrveranstaltungsprüfungen (z.B. Vorlesungsprüfung) und Teilprüfungen (z.B. Zwischentest, 'Hausübungen'). Zudem kann, um den tatsächlichen Eigenanteil der Arbeit bei evt. Benutzung von Chatbots zu ermitteln, die schriftliche Arbeit noch durch eine mündliche Prüfung ergänzt werden.

 

Literatur

Zur ersten Orientierung: Cynthia Fleury: Hier liegt Bitterkeit begraben. Über Ressentiments und ihre Heilung, Berlin 2023.

Weitere Literaturhinweise erfolgen im Seminar.
Forschungsliteratur und kürzere Texte werden über Moodle bereitgestellt; entsprechend der Absprache zu Semesterbeginn sind evt. einige der längeren Texte von den Teilnehmenden selbst anzuschaffen.

 

Prüfungsstoff

Seminarthemen

 

Mindestanforderungen und Beurteilungsmaßstab

Erwartet wird – neben der aktiven und regelmäßigen Teilnahme – die Mitwirkung in einer Expertengruppe, die den Stoff einer Sitzung aufbereitet und präsentiert; mindestens eine Respondenz zur Präsentation einer anderen Expertengruppe; nach Semesterende ein Exposé für eine Seminararbeit und (nach dessen einvernehmlicher Besprechung) eine Arbeit im Umfang von 25 Seiten, Abgabe bis 1. August 2024 (der Abgabetermin ist verhandelbar) in elektronischer Form.

Beurteilungskriterien:
- im Seminar: aktive Teilnahme an den Sitzungen; sachlich pointiertes Impulsreferat mit kompetenter Diskussionsleitung; Respondenz zu einer Präsentation der anderen Expertengruppen
- Seminararbeit: Länge von 25 Seiten im Haupttext; originelle Themenwahl und klare Fragestellung; Erschließung des aktuellen Forschungsstands; Orthographie, sprachliche Form, Stil; Berücksichtigung wissenschaftlicher Konventionen; Methodenbewusstsein; theoretischer Hintergrund

Prüfungsimmanente Lehrveranstaltungen aus dem Angebot der SPL10 sind grundsätzlich anwesenheitspflichtig. Maximal zweimaliges Fehlen ist erlaubt. Eine konsequenzlose Abmeldung ist bei wöchentlichen Lehrveranstaltungen bis vor der dritten LV-Einheit möglich, bei 14-tägigen Lehrveranstaltungen und Blöcken bis vor dem zweiten Termin.

Umfang der Abschlussarbeiten: Seminararbeiten 25 Seiten Haupttext

Modul V Masterseminar mit Zusatzleistung aus dem Master Deutsche Philologie (12 ECTS): Für die Aufwertung des Seminars um 6 ECTS muss eine verpflichtende schriftliche Mehrleistung (10 Seiten Haupttext) erbracht werden, d.h. es muss eine Seminararbeit im Umfang von 35 Seiten Haupttext verfasst werden.