Vorlesungs­verzeichnis

NdL: Idyll und Terror. Die österreichische Dorfgeschichte

100076 PS 2021S

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Vortragende:

Ziele, Inhalte und Methode der Lehrveranstaltung

Dorfgeschichten sind mehr als bloße Selbstbespiegelungen der Provinz. Denn nur in Ausnahmefällen artikulieren sich in ihnen die Dorfbewohner selbst; zumeist sind es Städter oder dem Land Entflohene, die mit derlei Erzählungen – sehnsüchtig oder auch blasiert – auf die Provinz blicken. Einerseits sind Dorfgeschichten, wie die heutige Komparatistik unterstreicht, ein globales narratives Phänomen. Andererseits schlagen sich in ihnen die sozial-, kultur- und literaturgeschichtlichen Eigenarten der jeweiligen Regionen nieder. In Deutschland, Österreich und der Schweiz entstand das Genre seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als eigentümliche Reaktionsbildung gegen die Effekte gesellschaftlicher Modernisierung. Mittels älterer Formenrepertoires (wie der Idylle oder Kalendergeschichte) protokollierten diese Dorfgeschichten jene Umbrüche auf den Feldern von Gewerbe, Verwaltung und Verkehr, die auch und gerade die ländlichen Lebensräume ereilten. Zunächst emanzipatorisch oder gar utopisch motiviert (wie etwa an ihrer Nähe zur Ghettoliteratur ersichtlich ist), legte die biedermeierliche und realistische Dorfgeschichte allerdings immer wieder einen Hang zur ›Binnenexotik‹ und Nostalgie an den Tag, zum Kitsch oder ›Populismus‹.
Seit den 1920er Jahren zwischenzeitlich in der ›Blut-und-Boden‹-Dichtung aufgegangen, entstanden nach 1945 unterschiedlichste Varianten dieses Genres: der literarische Lobpreis kommunistischer Bodenreform ebenso wie die triviale Heimatpoesie, zudem etliche Formen eines experimentellen oder bekenntnishaften Erzählens. Was aber zeichnet, unter diesen Vorzeichen, die Dorfgeschichte Österreichs aus? Zum einen waren die habsburgischen Provinzen des 19. Jahrhunderts, verglichen mit denen Deutschlands oder der Schweiz, vielfältiger und zugleich zentrumsferner, was ihre Homogenisierung und Modernisierung nicht erleichterte. Zum anderen stehen in Österreich »Land und Stadt«, wie Gerhard Roth sagt, bis heute »einander fremd gegenüber. Wer Österreich kennen will, muß beide Teile kennen«.
Vor diesem Hintergrund hat sich in Österreich das Genre (oder die ›Genre-Maske‹) der Dorfgeschichte als besonders zählebig erwiesen – und seit der Nachkriegszeit als umso produktiver, je intensiver es an seiner Selbstkritik und Selbstauflösung arbeitete. Denn wo man vormals – in vermeintlich zeitlosen Formen – idyllische Zustände behauptet hatte, stieß das Erzählen nun – im Gestus ikonoklastischer Selbstentzauberung – auf einen provinziellen Bodensatz von Borniertheit und Verdrängung, von Zwang und Terror. Aufgabe des Seminars wird es sein, ausgehend von einer allgemeinen Gattungs- und Funktionstheorie der Dorfgeschichte ihren österreichischen Werdegang an prägnanten Einzelfällen nachzuzeichnen (von Adalbert Stifter und Marie von Ebner-Eschenbach über Hans Lebert, Thomas Bernhard und Elfriede Jelinek bis hin zu Maja Haderlap). An seinem Ende mag die Frage stehen, welche Mittel und Möglichkeiten diesem Genre im Zeitalter der ›Anti-Heimatliteratur‹ noch offenstehen, welche erzählerischen und ästhetischen Wege es noch geben kann zwischen dem, was Karl Markus Gauß den alten »Kitsch der Verklärung« und den neuen »Kitsch der Denunziation« genannt hat.

 

Art der Leistungskontrolle und erlaubte Hilfsmittel

Erwartet wird – neben der aktiven und regelmäßigen Teilnahme – die Mitwirkung in einer Expertengruppe, die den Stoff einer Sitzung aufbereitet und präsentiert; mindestens eine Respondenz zur Präsentation einer anderen Expertengruppe; und nach Semesterende eine Seminararbeit im Umfang von 15 Seiten, Abgabe bis 15. September 2021 in gedruckter und elektronischer Form.

 

Literatur

Nach Möglichkeit werden Texte oder zumindest Textauszüge über Moodle bereitgestellt.

 

Prüfungsstoff

Prüfungsimmanente Lehrveranstaltung

 

Mindestanforderungen und Beurteilungsmaßstab

Prüfungsimmanente Lehrveranstaltungen aus dem Angebot der SPL10 sind grundsätzlich anwesenheitspflichtig.

- im Seminar: aktive Teilnahme an den Sitzungen; sachlich pointiertes Impulsreferat mit kompetenter Diskussionsleitung; Respondenz zu einer Präsentation der anderen Expertengruppen
- Seminararbeit: originelle Themenwahl und klare Fragestellung; Erschließung des aktuellen Forschungsstands; Orthographie, sprachliche Form, Stil; Berücksichtigung wissenschaftlicher Konventionen; Methodenbewusstsein; theoretischer Hintergrund