Kulturwissenschaften / Cultural Studies

Im Studienjahr 2000/2001 wurde die Geisteswissenschaftliche in eine Geistes- und Kulturwissenschaftliche Fakultät umbenannt (Universitätsorganisationsgesetz 93). Mit der Erweiterung des historisch-philologischen Paradigmas um ein kulturwissenschaftliches stellt sich auch für die Germanistik die Aufgabe einer aktiven Umsetzung kulturwissenschaftlicher Ansätze. Die sogenannte „kulturelle Wende“ verweist auf eine Reform der traditionellen geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen. Sie ist in der Internationalisierung und interdisziplinären Orientierung der Geisteswissenschaften begründet und strebt eine Vervielfältigung ihrer Perspektiven an. Seit 2002 kann der disziplinenübergreifende Studienschwerpunkt Kulturwissenschaften/Cultural Studies modular an der Universität Wien studiert werden. Der Schwerpunkt verbindet Ansätze der Gesellschafts- und Kulturanalyse verschiedener Wissenschaftstraditionen und ist ein transdisziplinäres Projekt zur Schärfung des kulturwissenschaftlichen Profils am Wissenschaftsstandort Wien, an dem externe LektorInnen des Instituts für Germanistik maßgeblich mitwirken.

1. Zentrale Arbeitsfelder

Eine kulturwissenschaftlich orientierte Germanistik (die Traditionslinie der Cultural Studies miteingeschlossen) stützt sich auf interpretative, bedeutungsgenerierende Verfahren, die sozial signifikante Wahrnehmungs-, Symbolisierungs- und Kognitionsstile in ihrer lebensweltlichen Wirksamkeit analysieren. In der breiten internationalen Diskussion des Kulturbegriffs hat sich ein synthetischer Ansatz durchgesetzt, welcher Kultur als Ensemble symbolischer Formen, Praktiken und mentaler Dispositionen begreift. Kulturwissenschaft geht damit über bloße Textwissenschaft hinaus und erweitert auch den Gegen­tandsbereich der Germanistik. Kulturwissenschaftlich orientierte Germanistik will das Funktionieren, die Grenzziehungen (das Fremde), die Dynamik der inner- wie außersprachlichen Sinnstiftungssysteme im Prozess der Geschichte beschreiben.

Im europäischen Kontext ist der Umgang mit der kulturellen Vielfalt im Zeichen von Globalisierung, Migration und neuem Ethnizismus historisch zu untersuchen und in Hinblick auf die Gegenwart theoretisch zu bearbeiten. Nicht zuletzt versucht eine kulturwissenschaftlich orientierte Germanistik im Sinne der „kulturelle Wende“ kulturelle Phänomene – wie die deutschsprachige Literatur – transdisziplinär auf ihren Konstruktionscharakter hin zu untersuchen und verschreibt sich der Vernetzung der Germanistik mit anderen Disziplinen bzw. dem Versuch, für diese Querverbindungen (Literaturtheorie, Semiotik, Theorie des Narrativen, Gender Studies) innovative methodologische Ansätze zu finden.

2. Gesellschaftliche Aufgaben / Kooperationen

Eine kulturwissenschaftlich orientierte Germanistik, die sich dafür interessiert, übergreifende Fragestellungen zu erkennen, kann zwischen den Einzelwissenschaften gemeinsame Problemfelder identifizieren sowie transdisziplinäre Verfahren und Verständigungsformen entwickeln. Kulturwissenschaftliche Forschungskonzepte können und wollen der Forderung nachkommen, die Philologien in ihrem Verhältnis zu sozialen Entwicklungen (Urbanisierung, Technisierung, Industrialisierung), zur Medienkonkurrenz (Photographie, Film, später Fernsehen und elektronischen Datenverarbeitung) sowie im Kontext internationaler, interkultureller und kolonialistischer Prozesse zu positionieren. Für die Studierenden befördert dieser transdisziplinäre Zugang die Fähigkeit zur interdisziplinären Zusammenarbeit, zur Arbeit an fächerübergreifenden Themenstellungen und nicht zuletzt zur interkulturellen Kompetenz, d.h. z.B. zu einem reflektierten Umgang mit den Konzepten ‚Identität‘ und ‚Alterität‘.

Die studentische Nachfrage und die Forschungssituation sprechen in hohem Ausmaß dafür, dass kulturwissenschaftliche Orientierung einen entscheidenden Vorteil bei der heutigen Profilierung im Feld der Germanistik darstellt. Internationale Netzwerke spielen dabei eine wichtige Rolle. Die Germanistik als das Fach mit den meisten ausländischen Studierenden kann dabei eine Vorreiterrolle spielen. Angesichts der steigenden Nachfrage an kulturwissenschaftlichem Lehrangebot sowie an der Betreuung von Diplomarbeiten und Dissertationen soll bei künftigen Stellenbesetzungen Rücksicht auf diese Entwicklungen genommen werden.

3. Unsere Geschichte

In Zusammenarbeit mit dem Forschungsschwerpunkt Kulturwissenschaften/Cultural Studies entstand Ende der 90er Jahre die interdisziplinäre Arbeitsgruppe Kulturwissenschaften/Cultural Studies, in der VertreterInnen der Germanistik entscheidend mitwirkten. Vorrangiges Ziel dieser Arbeitsgruppe war und ist die Institutionalisierung kulturwissenschaftlicher Forschung an der Universität Wien sowie die Förderung von NachwuchswissenschaftlerInnen. Resultate der Teamarbeit sind einige Studien und Forschungsprojekte sowie ein Antrag für ein Wissenschaftskolleg beim FWF. Weiters wurde die Idee einer Serie von Internationalen Graduiertenkonferenzen Kulturwissenschaften/Cultural Studies an der Universität Wien umgesetzt. Die Graduiertenkonferenzen, die zwischen 2002-2004 zu Themen wie „Narrative und Medien“, „Körper und Geschichte“, „Wissenschaftskulturen“, „postkoloniale Konflikte in Europa“ stattfanden, sind eine international äußerst erfolgreiche wissenschaftliche Organisationsform, die bislang in den österreichischen humanwissenschaftlichen Disziplinen nicht etabliert war. Zeitlich verschoben bildete sich eine Arbeitsgruppe, die, ebenfalls unter Beteiligung externer LektorInnen und DozentInnen der Germanistik, den Studienschwerpunkt Kulturwissenschaften/Cultural Studies an der Universität Wien konzipierte und auch durchsetzte und zuletzt ein Curriculum für einen MA- Studiengang vorlegte.

4. Unsere Zukunft

Betrachtet man die kulturwissenschaftlichen Reformulierungen
auf der Ebene von Perspektiven und Verfahren, so können kulturwissenschaftliche Ansätze als eine Steuerungsebene für die Modernisierung der Geisteswissenschaften verstanden werden. Kulturwissenschaften können als eine Form der Moderation, als ein Medium der Verständigung, eine Art Kunst der Multiperspektivität verstanden werden, die dazu dienen, die heterogenen, hochspezialisierten, gegeneinander abgeschotteten Ergebnisse der Wissenschaften zu „dialogisieren“. Weiters haben sie zum Ziel, diese Ergebnisse auf strukturelle Gemeinsamkeiten hin transparent zu machen, auf langfristige Trends hin zu befragen, disziplinäre Grenzen zu verflüssigen und ein Geflecht von Beziehungen, Vergleichen, Differenzen, Austauschprozessen und Kontexten zu entwickeln.

Für die Wiener Germanistik
ist die Miteinbeziehung eines so innovativen Forschungsfeldes von höchstem Interesse, vor allem im Hinblick auf den Wissenschaftsstandort Wien und das kulturelle zentraleuropäische Umfeld. Durch eine forschungsintensive und zugleich angewandte kulturwissenschaftliche Ausrichtung kann sich das Wiener Institut im deutschsprachigen Raum profilieren, nicht zuletzt auch wegen gewisser Standortvorteile und der sich daraus ergebenden Kooperationsvorteile. Während, ähnlich wie im Bereich der Gender Studies, bisher hauptsächlich PrivatdozentInnen und externe LektorInnen den Forschungsschwerpunkt vorangetrieben haben, ist es unser Ziel, nun gemeinsam dessen universitäre Verankerung im Bereich der germanistischen Sprach- und Literaturwissenschaft zu betreiben und auch hinsichtlich des Personalstands, der Raum- und Budgetsituation auf eine Verbesserung der Situation hinzuarbeiten.

5. Besonderheiten der Kulturwissenschaften / Cultural Studies in Wien

Zu den Besonderheiten der Kulturwissenschaften an der Universität Wien und speziell am germanistischen Institut gehören Offenheit, Internationalität und – trotz aller Pluralität kulturwissenschaftlicher Ansätze – eine gewisse methodische Verbindlichkeit. Folgende Punkte sind hier im Vergleich zu anderen kulturwissenschaftlichen Angeboten hervorzuheben: Dialog zwischen den deutschen Kulturwissenschaften und den angelsächsischen Cultural Studies; Transdisziplinarität in Forschung und Lehre; kritischer Selbstbezug (die Analyse von kulturellen Phänomenen ist Teil des kulturellen Feldes und verändert dieses); Internationalität (Graduiertenkonferenzen, internationale ReferentInnen); enge Verbindung von Literatur- und Kulturtheorie; außeruniversitäre Kooperationen (Stadt Wien, IFK); Zusammenarbeit mit dem gleichnamigen Forschungsprogramm des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur sowie die Wien Akademie der Stadt Wien.