Kritische Arbeit am Kanon im transkulturellen Literaturunterricht. Am Beispiel von Kleists Verlobung in St. Domingo

Gastvortrag: Assoc.-Prof. Dr. Hajnalka Nagy (Universität Klagenfurt)

Dienstag, 12.12.2023, 18.30-20.00 / Hauptgebäude, Tiefparterre, Stiege 9, Hörsaal 5

Kulturelle Identität ist ohne Erinnern und Gedächtnis nicht möglich (vgl. J. Assmann 2005, S. 89), genauso wie auch kulturelles Gedächtnis ohne Kanon, verstanden als Ensemble von Texten, kulturellen Repräsentationen sowie kollektiven Selbst- und Weltbildern, unvorstellbar ist. Eine spezifische Funktionalisierung erfahren Kanon und kollektives Gedächtnis im 19. Jahrhundert, indem sie zum Mittel der Hervorbringung nationaler Identität und kultureller Hegemonie werden. Der Konnex von Nation, Kanon und Macht wird insbesondere am Beispiel des Deutschunterrichts offensichtlich, der explizit im Dienst der nationalen Idee stand und heute noch – etwa durch die Dominantsetzung bestimmter Autor*innen und einer national gerahmten Literaturgeschichte – natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeitsstrukturen legitimiert.

Die herrschaftsstabilisierende Funktion von Kanon wird in der Literaturdidaktik seit Beginn der 2000er-Jahre problematisiert, wobei vor allem angesichts der Herausforderungen der postmigrantischen und postkolonialen Gesellschaft auf die Öffnung schulischer Kanons und auf eine kritische Reflexion von Kanonisierungs- und Traditionsbildungsprozessen insistiert wird. Um das bislang vorherrschende, an germano- und eurozentrische Erzählungen orientierte Konzept der literarischen Bildung neu zu justieren, greifen jedoch alternative Kanons zu kurz. Es bedarf vielmehr – wie TheoretikerInnen des pädagogischen Ansatzes des Verlernens (vgl. Castro Varela 2017) betonen – einer allgemeinen ‚Dekolonisierung‘ von Bildung, die im Deutschunterricht u.a. mit der Infragestellung jener kollektiven Deutungs- und Handlungsmuster sowie Selbst- und Weltvorstellungen einhergehen soll, die Klassiker bzw. ihre didaktischen Kommentierungen transportieren.

Ausgehend vom Konzept des Verlernens geht der Beitrag am Beispiel einer neuen Bearbeitung von Necati Öziri zu Kleists Die Verlobung in St. Domingo einerseits der Frage nach, welche Neuinterpretationen Klassiker unter postmigrantischen Bedingungen notwendigerweise erhalten, wenn sie auf aktuelle Diskurse antworten möchten. Andererseits wird gezeigt, wie dieser Bedeutungswandel kanonischer Werke und die Transformation des kulturellen Gedächtnisses auch für junge Leser*innen in einem transkulturellen Literaturunterricht reflektierbar werden kann, indem konventionelle und kontroversielle Deutungen von Klassikern in den Mittelpunkt literarischer Erinnerungsarbeit und Rassismuskritik gestellt werden.